Louis le Grand

Am 31. Juli würde Louis de Funès 100 Jahre alt – warum er schon zu Lebzeiten unsterblich wurde


Wie konnte es kommen, dass dieser kleine Glatzkopf mit der grossen Nase und der noch grösseren Klappe →

  • über die Grenzen hinaus zum erfolgreichsten Komiker der sechziger und siebziger Jahre avancierte (270 Millionen verkaufter Eintritte allein in Frankreich),
  • zur Vedette mehrerer der beliebtesten französischen Filme der letzten Jahrzehnte («La grande vadrouille», «Les aventures de Rabbi Jacob», «Le gendarme de Saint-Tropez» etc.),
  • ja zu einem der bedeutendsten Franzosen der letzten Jahrhunderte (Rang 17, gleich hinter Napoleon)?


Unglaublisch, non. Eingedenk all der schlaffen Klamotten – Konfektionsware halt –, in denen er zu sehen war … Lassen wir nun allerdings aus feierlichem Anlass sein Lebenswerk und insbesondre seine Auftritte in flamboyant-extravagant massgeschneiderten Stoffen Revue passieren, so leuchtet es unversehens ein: Louis Germain David de Funès de Galarza (1914–1983) verkörperte, von den immer spärlicheren Haar- bis zu den Fussspitzen, die Kardinaltugenden des Kinos als populärer Kunst. Jenes Kinos also, das einst Alt und Jung, Arbeiter und Bildungsbürger, Royalisten und Sozialisten gemeinsam vor der Leinwand versammelte. Mit überlebensgrossen Projektionen unsrer selbst.

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I. Einer aus dem Volk
Dem vornehm klingenden Namen zum Trotz drehte sich denn auch das Leben von Louis jr., einem Sprössling spanischer Einwanderer, zunächst schlicht darum, dass er ein handfestes Metier erlernen sollte; Kürschner etwa, fand die Frau Mama. Doch zu ihrem Leidwesen – und unserm Glück – wurde er jeweils kurzerhand von der Schule geschasst, mal als Unruhe-, mal als Brandstifter sogar. Bis es ihn in die verrauchten Bars der Pariser Amüsierviertel verschlug, wo er, wie schon von klein auf, einfach nach Gehör als Pianist gross aufspielte. Ja, hier spielte die Musik. Hier liess sich die ganze Klaviatur des Ausdrucks erproben. Und hier sprang der Funke aufs Publikum über – spätestens, wenn der Maestro sich fürs Finale furioso wie dereinst Jerry (Lee) Lewis auf den Flügel schwang. Tatsächlich ist es eben dieses Gespür für die extremen Tonlagen, von vulgär bis elitär, was die echte Volkskunst ausmacht, ob Varieté, Cabaret oder Ciné. Sodass er nach zahllosen Miniparts auf Theater- und Filmbühnen, selbst nach dem 50. Geburtstag noch über sich hinauswachsend, buchstäblich tonangebend wurde: Louis de Funès. Pardon: Monsieur de Funès.


II. Hofnarr und König zugleich

Nach und nach nahm dabei seine Kunstfigur Gestalt an. Aus demselben Holz geschnitzt wie Molières «Geiziger» oder «Menschenfeind», mitunter ungehobelt und doch geschliffen in den Umgangsformen, verwurzelt in der Nachkriegszeit und dennoch zeitlos … So wurde er just in dem Augenblick, als er in die Uniform des Polizisten (tenue gendarme) und des Kapitalisten (tenue business) schlüpfte, in Paris wie in Wilisau oder Moskau begeistert wiedererkannt: als typischer petit bourgeois nämlich, der nach Geld giert und mehr noch nach Geltung – mit entsprechend heuchlerischem Auftreten nach oben in der Hierarchie und tyrannischem nach unten. «Entschuldigen Sie sich nicht. Die Armen, die entschuldigen sich. Wenn man reich ist, ist man unausstehlich!» Dieser Devise getreu lebte M. de Funès für uns den bourgeoisen Napoleonkomplex aus, mit all seinen Ambitionen, Aggressionen und Ressentiments. Was bedeutet, dass er als Gendarme von Saint-Tropez gegen die Nudisten anrennt oder als Gastrokönig gegen die Fastfoodisten – «La Grande Nation!» –, jedoch nie aus reiner Überzeugung, sondern vor allem aus Eigeninteresse. Als braver Chauvinist und Rassist nimmt er auch einen Araber zum Schwiegersohn, sofern sich der zu guter Letzt als (verkleideter) Prinz erweist. Und oft realisiert man erst da, welche Narrenfreiheit dieser Künstler besass, um uns die menschlichen, allzu menschlichen Schwächen vorzuhalten.


III. Das Gesicht hinter der Maske

Apropos, hat man je einen solchen Schwächling gesehen? Ohne jedes Rückgrat offenbar, kriecht und katzbuckelt er im einen Moment – besonders unter den Augen der Autorität –, um einen im nächsten hinterrücks zu übervorteilen, schamlos manipulierend-intrigierend (egal, ob’s um den Gewinn beim Boule geht oder beim Buhlen um die Offizierswitwe). Und gleichzeitig stammt daher auch seine Kraft als einer der wenigen unsympathischen Sympathieträger der Popkultur. Denn Monsieur mag es zwar gelingen, den andern etwas vorzumachen – ihm selber aber kaum. Und uns schon gar nicht. Schliesslich ist die Kamera auf unsrer Seite. Entlarvend etwa die Szene, in der er als Schmugglerkönig unter der Dusche eines Campingplatzes neben einem Muskelprotz zu stehen kommt (ist ’ne lange Geschichte) und natürlich ebenfalls die Müskelchen spielen lassen will … bevor er wie ein nasser Waschlappen davonschlappt: Ein Dutzend Nuancen, von der Arroganz über die Rage bis zur Blamage, spiegeln sich in seinem Gesicht. Worin man entweder bloss die Grimassen eines holzköpfigen Kasperles wiedererkennt. Oder – wenn wir ehrlich sind – dich und mich.


IV. Mehr als tausend Worte

Im Gegensatz zu den ach so erwachsenen «Erwachsenen», die solche «Kindereien» partout nicht ausstehen können, verstehen die Kinder sie intuitiv. Denn selbstverständlich handelt es sich um pointiert überspitzte Darstellungen der Erwachsenenwelt – in der Tradition der Commedia dell’Arte, des Slapsticks und Comics –, wo die Protagonisten irgendwelchen obskuren Objekten der Begierde hinterherhecheln (Ruhm! Rang! Moneten!) und dabei über die Tücken derselben stolpern (Verwechslungen inkl.), während selbst der Dialog ins Absurde abgleitet («Hallo Tata, hier Toitoine, wie geht’s Tonton?»). Kurz: Viel Lärm um nichts. Sodass einem nichts übrig bleibt, als sich mit Händen und Füssen mitzuteilen. Mit Mimik und Gestik und tänzerischer Artistik – der Körpersprache eben, durch die der Stummfilm einst die Sprachbarrieren weltweit überwand. Und keiner war beredter darin, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, als M. de Funès. Wie er sich in seiner Paraderolle in «Oscar» als Wichtigtuer aufbläst, immer heftiger und hitziger, als würde ihm die stolzgeschwellte Brust zu Kopf steigen, bis er – am Ende seines Lateins angelangt – fast abhebt, einen Schnabel zieht und Donald-Duck’sch zu schnattern beginnt … Ohne Worte ist alles gesagt: Schaumschläger, das sind wir; Schaumschläger, die Seifenblasen produzieren. Und wer Kinds genug ist, freut sich, dass sie ein paar Mal lustig aufhüpfen, ehe sie platzen.


V. Wie eine Naturgewalt

Für die Autoren und Regisseure bestand die Herausforderung darin, diese aufbrausende Energie so zu bündeln, dass sie nicht verpufft. Die gewitzten unter ihnen, allen voran Gérard Oury, steckten M. de Funès deshalb in ein Korsett. Bildlich gesprochen zumindest: indem sie seinen Spielraum einengten – wenn nicht durch Lackschühchen und Rabbinerkostüm (à la «Rabbi Jacob»), vielleicht durch den Schauplatz (der sich in «Sur un arbre perché» auf ein in einer Baumkrone gelandetes Cabriolet beschränkt) oder durch einen Schauspielerkollegen (wie den liebenswürdig lethargischen Bourvil). Denn auch hier gilt: Je stärker sich verschiedene Elemente aneinander reiben, desto explosiver die Wirkung – desto schillernder die Farbtöne und aufregender der Knall … Und dann, ja dann kann es in der Kunst wie beim Anblick eines Naturschauspiels urplötzlich geschehen, dass, für einige Augenblicke, die Zeit stillsteht … Tatsächlich. Werden Menschen am Ende nicht deswegen unsterblich: weil sie uns das Gefühl schenken, wir seien unsterblich? Wie dieser grosse kleine Mann, der eigentlich am liebsten in seinem Garten Rosen züchtete.


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Voilà. Auf diese Weise schuf das populäre Kino des 20. Jahrhunderts wahre Sinnbilder der alltäglichen «menschlichen Komödie». Für alle Welt, allesamt ansprechend – im Gewand täuschend leichter Unterhaltung. Und im Unterschied zu den Instant-Stars der Internet-Ära haben sie noch immer nichts von ihrer Ausstrahlung verloren. Im Gegenteil. Auch auf YouTube erscheint sie geradezu frappant, die Ähnlichkeit zwischen Louis le Grand und dem/n französischen Staatspräsidenten:


© 2014 (Screenshot aus «Le tatoué»; YouTube-Clips aus «L'homme orchestre» von Serge Korber, «Le corniaud» sowie «Les aventures de Rabbi Jacob» von Gérard Oury und «Oscar» von Édouard Molinaro)

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