Vom Winde verweht

Wintererwachen auf der Nordseeinsel Norderney


Merkwürdig melodisch schon der Name der Insel: Nor-der-ney. Wie das Wiegen und Wogen der Wellen, als die Fähre übersetzt – weg vom Festland mit seinem tagtäglichen Irrsinn, der zuletzt tatsächlich alltäglich erschien, sei’s die Bombendrohung, derentwegen der Zug umgeleitet wurde, oder das Schulmädchen im Abteil nebenan, das fröhlich Zoten riss wie «Da waren also ein Deutscher, ein Russe und ein Türke …». Weit weg fühlt sich das alles an.


Norderney

Willkommen auf Norderney. Zweitgrösste Ostfrieseninsel der Nordsee; mit einer Fläche von gerade mal 26 Quadratkilometern und 6000 Einwohnern. Ungleich zahlreicher indes die Vierbeiner, von den Karnickeln, die sich (gegen 30'000 an der Zahl) zu einer wahren Plage ausbreiten können, bis hin zu den Kaniden, für die es (neben dem Jugend- und dem FKK-Strand) sogar einen Hundestrand gibt. Und ganz abgesehen von der Statistik: Überwachsen von Naturschutzgebieten und vom «Weltnaturerbe Wattenmeer» umspült, wird das karge Eiland nach wie vor durch die Natur beherrscht. Ungeachtet des Tourismus als lebenswichtigster Einnahmequelle. Sodass es einem spätestens beim Anblick der schwerelos über die Brandung hinweggleitenden Vögel im Wind, ewig tosend-stossend, klar wird: Hier gelten andere Gesetze, Naturgesetze. Weniger die Zeit als vielmehr die Gezeiten – das Kommen und Gehen, Entstehen und Vergehen.


Entstanden ist zum Beispiel Ende des 18. Jahrhunderts entlang des weissen Sandes an Norderneys Westküste eines der ersten See(heil)bäder Deutschlands. Eine geradezu mondäne friesische Riviera en miniature, deren Geschichte das Bademuseum des Örtchens nacherzählt – und deren einstiger Glanz längst vergangen ist. Vieles ist vergammelt, verschandelt, verschwunden … Doch seit der Kommunalisierung des «Staatsbads» vor gut zehn Jahren hat sich Norderney einer selbstverschriebenen Verjüngungskur unterzogen. Mit der Renovierung historischer Prachtbauten wie des Bade- und des Conversationshauses, mit neuen Pächtern und frischen Ideen, ob Bioprodukte, Hochglanzmagazin oder Facebook-PR-Aktion. Und mögen da manche Norderneyer noch so die Nase rümpfen wie über faulen Fisch: Ihre Insel wird nun im Sommer wieder überflutet von Hipstern und Singles, Frauenkegelklubs und Männerriegen, die’s knallen lassen wollen. Ein bisschen Ballermann halt – oder eher Ballermännchen, schliesslich heisst der «place to be» brav Milchbar.


Eines allerdings ist und bleibt – natürlich –, wie es immer war: Die besondere, schroffe Schönheit Norderneys kommt erst zum Vorschein, sobald der Besucherstrom verebbt. Im Winterhalbjahr nämlich, wenn die Wolkendecke («Zeitweise kann Regen fallen», wie allmorgendlich in der Lokalzeitung zu lesen ist) stürmisch hin- und her- und aufgerissen wird; wenn das vielzitierte anregende «Reizklima» seine volle Wirkung entfaltet; wenn vor den Wegtafeln, die den Kalorienverbrauch anzeigen, höchstens kichernde Seniorinnen stehen – wenn einem überhaupt bloss vereinzelte vermummte Gestalten windschief entgegenstapfen. Nirgends geschieht dann die Entschleunigung schneller.


Wer kennt sie nicht, die Ostfriesenwitze über jene Sonderlinge, die sich abends mit «Moin Moin» grüssen? Kein Witz: Unversehens wird man selber vom sonderbaren Lebensgefühl der Insulaner erfasst. Vom tändelnden Rhythmus der Hollandfahrräder etwa, mit denen man je nach Windrichtung die Dünen hinaufsaust oder hinabstrampelt, aber auch von der Relativität der Dinge … «Sehen Sie dort drüben», sagt grinsend der Taxifahrer, der uns einmal in den unbewohnten Ostteil der Insel bringt, «der höchste Punkt Frieslands – unser Zweitausender! 2400 Millimeter!» Unentwegt, gerade ausserhalb der Saison bei reduziertem Busfahrplan, kutschieren die Touristen nebst den Stahlrössern in Taxis umher. Vorbei an Backsteinhäusern, an weidendem Vieh und Männern, die ihre Waren in Handkarren zum Hafen schaffen. Plötzlich spurt vor uns haarscharf ein Kleinlaster ein – «HK 1», erklärt der Fahrer, «HK für Hohlkopf.» (Dessen Bruder übrigens sei HK 2.) Und wenig später ist man angekommen am Ende der Strasse. «Einsamer geht nicht.»


Tatsächlich nähert man sich von hier aus nur noch sich selbst. Hinter Wäldchen und Marschen, mitten durch eine surreale, in eisiges Licht getauchte Dünenlandschaft, weiter und weiter, bis sich der muschelbesäte Strand auftut – da steht man letztlich. Und man blickt, jenseits des manchmal zu Fuss überquerbaren Watts, auf die Windstromräder am Horizont, sich langsam lautlos drehend. Was man hört? Nicht mehr den Wind, den fortwährenden Wind, der inzwischen den letzten Gedankenfetzen weggeweht hat, sondern, wie einem dämmert, den eigenen Atem.


Ja, so pathetisch es klingt: Winters auf Norderney erwacht man zu neuem Leben.


© 2014

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